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Pressespiegel: "Die älter werdende Bevölkerung braucht mehr medizinische Versorgung"

Portraitaufnahme von Dr. med. Loretta Farhat

von Anja Beutler, Sächsische Zeitung, 07.12.2022

Dr. med. Loretta Farhat, Ärztliche Direktorin des Fachkrankenhauses Großschweidnitz, über komplexere Fälle, steten Fachkräftemangel, sinkende Hemmschwellen - und Lichtblicke.

Loretta Farhat steht seit neun Jahren als Ärztliche Direktorin an der Spitze des Sächsischen Fachkrankenhauses Großschweidnitz. Bereits 2009 wurde sie hier Chefärztin und kennt die psychiatrische und psychologische Versorgung in der Region gut. Im Interview erzählt sie, wie es ums Thema Ärztemangel steht, warum es Terminengpässe gibt und wie sich die Krisenfestigkeit der Menschen entwickelt. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie sagt aber auch, warum sie dennoch zuversichtlich in die Zukunft schaut.

Frau Farhat, im Landkreis Görlitz verschärft sich der Ärztemangel zunehmend, selbst einen Psychotherapie-Termin zu erhalten, ist enorm schwierig, wie die SZ jüngst berichtete. Wie sieht es am Landeskrankenhaus aus?

Farhat: Das Thema Ärztemangel begleitet uns seit etwa 20 Jahren. Wir haben immer offene Stellen und werben auf Börsen, mit überregionalen Ausschreibungen oder über Vermittlungsagenturen - sogenannten Headhuntern - um Ärzte. Es gibt dabei immer mal bessere Phasen, wo wir die Stellen gut besetzen können und schwierigere, zum Beispiel, wenn Kollegen wechseln oder junge Ärztinnen ein Kind bekommen und dadurch zeitweise ausscheiden.

In welcher Phase befinden Sie sich jetzt?

Farhat: Derzeit eher in einer schlechten, aber mit Tendenz zur Besserung. In Zahlen ausgedrückt, haben wir in der Psychiatrie aktuell zwei und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine freie Arztstelle. Das klingt erst einmal nicht so dramatisch. Man muss aber wissen, dass wir seit einigen Jahren freie Arztstellen mit Psychologen und Psychotherapeuten besetzen. Das funktioniert in Bereichen, die psychotherapeutisch arbeiten. Darüber hinaus brauchen wir aber auch Psychiater, also Mediziner, um die Arztstellen zu besetzen.

Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten - was ist das der Unterschied?

Farhat: Es gibt zwei Wege, um an einem Haus wie unserem in oben genannten Professionen arbeiten zu können: entweder man studiert Medizin oder Psychologie. Die Medizinstudenten machen ihr grundlegendes Studium und können sich dann zum Facharzt weiterbilden - zum Psychiater zum Beispiel. Wer Psychologie studiert, muss sich im Studium ebenfalls spezialisieren. Will man in die medizinische Richtung gehen, belegt man klinische Psychologie. Mit einem solchen Abschluss kann der Psychologe an einer Klinik arbeiten. Fast alle Psychologen bilden sich berufsbegleitend zum Psychotherapeuten weiter. Um mit Medikamenten zu arbeiten, muss man aber Arzt sein, braucht also ein Medizinstudium. Die Facharztausbildung kann man dann in Großschweidnitz absolvieren. Seit 2020 sind wir Akademisches Lehrkrankenhaus, das war ein Meilenstein für uns und hilft enorm, dass junge Ärzte den Weg zu uns finden.

Wenn Ärztemangel schon immer Thema war - warum ist die Lage jetzt so akut?

Farhat: Das hat mehrere Gründe. Unsere Situation verschärft die Lage auf dem Land, denn angehende Ärzte oder Psychologen bleiben lieber in größeren Städten. Doch auch an den Kliniken dort ist die Bewerberlage inzwischen nicht mehr so wie früher, wo man sich die Kandidaten aus einem Stapel Bewerbungen aussuchen konnte. Die Konkurrenzsituation hat sich verschärft. Hinzu kommt, dass das Durchschnittsalter der Bewohner hier in der Region steigt - und gerade ältere Menschen mehr Behandlungsbedarf haben: Das Risiko der Entwicklung einer Demenzerkrankung oder eines Delirs - ein Verwirrtheitssyndrom zum Beispiel nach einer Narkose - ist bei älteren Menschen deutlich höher. Das spüren wir in der Praxis. Die älter werdende Bevölkerung braucht mehr medizinische Versorgung – auf körperlicher und psychischer Ebene.

Welche Rolle spielt die Krisenanfälligkeit der Gesellschaft?

Farhat: Die sogenannte Resilienz der Bevölkerung - also die Widerstandskraft bei psychischem Stress - nimmt tatsächlich ab. Das sehen wir bei jüngeren Leuten beispielsweise bei Trennungen. Es kommen junge Menschen als Notfälle zu uns, weil sie ihrem Ex-Partner zuvor per SMS angekündigt haben, sich umzubringen. Wir sehen auch zunehmend Menschen – zum Beispiel alleinerziehende Mütter - die im Alltag mit Kindern und Job überfordert sind, wenig Hilfe, kein soziales Netz haben und im Dauerstress stecken. Aber auch psychosomatische Erkrankungen - Schmerzen, Schwindel - deren Auslöser aber nicht körperliche, sondern seelische Probleme sind, nehmen zu.

Ist das so neu?

Farhat: Da gibt es durchaus neue Phänomene. Wir beobachten, dass Menschen immer weniger geneigt sind, eine Wartezeit auf einen Arzttermin zu akzeptieren. Neuzugänge während der Nachtdienste und an Wochenenden hat es früher kaum gegeben - heute ist das normal. Eine Ärztin hat einmal eine Patientin gefragt, warum sie in der Nacht in die Klinik gekommen ist. Die junge Frau hat ihr erklärt, es gehe ihr eben jetzt schlecht, tagsüber habe sie zu tun gehabt. Die Hemmschwelle sinkt und das bringt uns an Grenzen.

Diese Mischung versetzt Sie und Ihre Kollegen in Stress...

Farhat: Ja, die Arbeit hat sich sehr verdichtet. Zwar ist die Bettenzahl in unserem Haus über die Jahre konstant, aber die Verweildauer der Patienten bei uns ist seit der Wende stetig gesunken, wir haben also deutlich mehr "Fälle" zu behandeln. Hinzu kommt, dass die Arbeit anspruchsvoller geworden ist - beispielsweise durch die Überprüfung von Wechselwirkungen von Medikamenten, wenn wir welche verschreiben. Je mehr Probleme ein Patient hat, je älter er ist, desto komplexer ist die Behandlung.

Aber Stress gibt's auch in anderen Fachrichtungen - warum ist die Nachwuchssuche in der Psychiatrie so schwer?

Farhat: Der negative Touch bei psychischen Erkrankungen ist leider immer noch da. Dabei ist das Fachgebiet Psychiatrie und Psychologie so reizvoll!

Inwiefern?

Farhat: In unserem Fach betrachtet man den Menschen und seine Persönlichkeit ganzheitlich, erfragt Prägungen und Belastungen auch aus frühester Kindheit und kann Verhaltensmuster ableiten und Fehlverhaltensweisen therapieren.

Aber man muss perfekt die Sprache beherrschen und Zwischentöne hören - das erschwert das Anwerben von ausländischem Personal, oder?

Farhat: In der Tat muss man auch die Feinheiten hören und verstehen können. Wer als Arzt hier arbeiten will, muss einen Deutschtest bei der Landesärztekammer bestehen - was mitunter nicht im ersten Anlauf klappt. Aber viele kämpfen sich durch. Auch wir haben ein internationales Team, dessen Fremdsprachenkenntnisse uns oft auch helfen. In Großschweidnitz sind derzeit Ärzte aus Tschechien, der Ukraine, Serbien, Kosovo, Argentinien und dem Libanon. Ein russischer Arzt und eine türkische Ärztin haben eine Einstellungszusage erhalten.

11.01.2023

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